Freitag, 10.August, Morgen früh um 04:31 auf den ersten Zug zum Flughafen. Wir sind zu fünft, Gabriel (Aramäer, lebt in der Schweiz), Georges (kommt aus Indien), Schwester Hanna (aus Holland). Hinzu gesellen sich meine Lebenspartnerin Erika und ich (Schweiz). – In Istanbul samt Gepäck neu einchecken für den Inlandflug. Langes Kolonnen-Stehen, verspäteter Abflug, da ein Pilot „fehlte“ … Dann klappte es doch und es war schon am Eindunkeln, als wir auf dem kleinen Flughafen von Mardin landeten. Yako, Gabriels Bruder, holte uns ab. Und los gings, weitere 60 Kilometer ostwärts nach Midyat. Erika und ich sind froh, dass wir uns im Hotel verkriechen können. Ein Prachtsbau, wie eine Burg, weisser Kalkstein, einen und mehr Meter dicke Mauern, uralt, wunderbar renoviert; unsere aramäischen Freunde haben uns da etwas ganz besonderes ausgesucht. Dazu aber in einem späteren Beitrag.
Am nächsten Morgen holt uns Yako ab nach Arbo. Zuerst wird aber eingekauft, Lebensmittel, fast tonnenweise, ist man versucht zu sagen. Midyat ist bekannt für Kunsthandwerk, besonders auch für Silberarbeiten. Yako führt uns auch zu einer Kirche, mit integrierter Schule (Kloster) und zeigt uns ein äusserst wertvolles Buch. Es stammt aus dem Mittelalter und liegt – als Original! – einfach so in der Kirche auf. Mir ist das unverständlich. Yako kennt das Problem und gibt zu, dass es schon einmal gestohlen wurde. Es muss von unschätzbarem Wert sein, nicht nur aus religiösen Gründen für die syrischen orthodoxen Christen, sondern aus kultur- und kunsthistorischen.
Ein paar erste Fotos: Flughafen Mardin und ein erster Bummel durch Midyat
Auf ins Aramäerland
Midyat zählt weit über 100´000 Einwohner; die Stadt sei nicht ungefährlich, und das gelte nicht nur für Touristen. Seit einiger Zeit kommt ein Lager mit 25´000 Flüchtlingen aus Syrien dazu (die Zahl scheint mir etwas hoch, aber so wurde es uns gesagt). – Nochmals wird eingekauft, in einem Verteilzentrum. Die Fahrt geht auf teilweise kilometerlangen, schnurgeraden Strassen nach Südosten. Die Landschaft ist grossartig. Vor allem die Weite ist faszinierend. Und meistens kein einziges Haus weit und breit. Nichts vom Gefühl der Enge, das mich oft in der Schweiz und andern zersiedelten, mitteleuropäischen Ländern beschleicht. Ein Charakteristikum sind die unzähligen kleinen Eichen, die zu Tausenden wie dunkle Flecken und Punkte in der Landschaft stehen.
Arbo (Aramäisch) = Taşköy (Türkisch)
Die ersten Lebewesen, die uns empfangen, sind Yakos Welpen. Das winzige Dorf liegt auf einem Hügel und in einer sanften Senke. Dort befinden sich normalerweise Tümpel mit Wasser; davon ist nichts zu sehen. Das Wasser wird aus 250 Meter Tiefe an die Oberfläche und dann zum Wasserturm hinauf gepumpt. Yako sammelt zudem Regenwasser vom Dach des Hauses, das in ein eigenes Reservoir fliesst.
Nur ganz wenige Menschen leben dauerhaft hier. Yako ist einer von ihnen. Er ist vor ein paar Monaten aus der Schweiz hierher – sozusagen in das Dorf seiner Urväter und Väter – gezogen und wird bleiben. Die Meisten, die kommen, leben in andern Ländern und besuchen das Dorf villeicht für ein paar Monate im Jahr. Kann sein, dass es in den nächste Jahren mehr werden. An Kirchen fehlt es jedenfalls nicht – drei sind es, die neuste und grösste wird jetzt dann eingeweiht …
Die Menschen können praktisch von dem leben, was der Boden hergibt. Erika und ich können uns nicht erinnern, in den letzten Jahren bessere Früchte und frischeres Gemüse gegessen zu haben. „Bio“, aber wirklich!, wird hier betont. Und das ist in diesem Fall bestimmt kein Witz. Und vor allem kein Marketing-Schwindel.
Hier leben ausschliesslich Aramäer. Die Dörfer der Umgebung haben enge Kontakte untereinander. Die Kirche beziehungsweise Religion spielt hier eine grosse Rolle. Und die Familie: Nichts scheint über sie zu gehen. – Was mich betrifft: Die Stille, die weite Landschaft, die saubere Luft faszinieren mich. Aber hier leben? Nein, das könnte ich nicht. Ich brauche die Stadt.
Die neue, nach uralten Plänen wiederaufgebaute Kirche wirkt auf mich aus architektonischen und historischen Gesichtspunkten sensationell. Oder ästhetisch gesehen: ganz einfach schön. Auf Drängen Gabriels und Yakos nahm ich an einem Gottesdienst teil. Ich sollte Fotos machen. Eine fremdartige Welt tat sich auf für mich, aber hochinteressant und zutiefst archaisch. Und es war ein Musterbeispiel von „patriarchalischer Religionsausübung“ – dieser Begriff fällt mir einfach jetzt so ein.